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05. September 2023

«Für die Umwelt wäre mehr drin gelegen»

Klima und Umwelt machen der Bevölkerung am meisten Sorgen. Trotzdem entscheidet das Parlament im Einzelfall oft gegen die Umwelt. Die Politologin Cloé Jans sagt, dass die Dringlichkeit der Biodiversitätskrise in der Öffentlichkeit noch gar nicht richtig angekommen sei.

Am 22. Oktober sind Wahlen. Darf sich der WWF darauf freuen?
Cloé Jans: Die Ausgangslage ist weniger günstig als 2019. Das Klima steht nicht mehr alleine im Vordergrund, sondern auch die Wirtschaftspolitik und Sicherheitsthemen. Doch zentral ist etwas anderes: Grüne Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wenn sich eine FDP für das Klimaschutz-Gesetz einsetzt, ist etwas in Bewegung gekommen. Die Frage ist, ob grüne Themen wie der Klimaschutz oder die Biodiversität auch so ausgestaltet werden, wie es sich der WWF wünscht.

Der Klimaschutz nimmt im Gegensatz zur Biodiversität breiten Raum ein. Das schleichende Artensterben und die schwindende Naturvielfalt werden kaum wahrgenommen.
Jans: Die Biodiversität und das Artensterben sind in der Problemwahrnehmung der Bevölkerung noch nicht wirklich verankert. In unseren Umfragen spielen diese Themen jeweils eine stark untergeordnete Rolle. Auch in der Politik ist wenig Priorität und Dringlichkeit erkennbar. Man diskutiert zwar viel, doch im konkreten Fall gibt es immer einen Grund, weshalb die Umwelt jetzt gerade keine Priorität hat.

Woran liegt das?
Jans: Wenn wir die gesellschaftliche Debatte und die mediale Berichterstattung betrachten, dann geht es beim Thema Umwelt vor allem um den Klimawandel, um Treibstoffabgaben, CO2-Werte und die sichere Energieversorgung. Die Biodiversitätskrise kommt dagegen viel weniger vor. Der Klimawandel ist bedrohlicher, wir sehen Bilder von extremen Stürmen, Überschwemmungen und Dürren. Das hat einen hohen Newswert. Was passiert dagegen, wenn wir weniger Insekten oder Fische haben? Das findet man schade, aber die krassen Konsequenzen dieser schleichenden Entwicklung sind der Politik.

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Cloe Jans vor grossem Fenster

«In der Politik diskutiert man viel, doch im konkreten Fall gibt es immer einen Grund, weshalb die Umwelt jetzt gerade keine Priorität hat.»
 

Dabei stehen im Sorgenbarometer Klima und Umwelt an oberster Stelle.
Jans: Die oberste Sorge muss nicht zwingend das wichtigste Wahlthema sein. Doch es korreliert natürlich, denn ein Thema ohne Problemdruck schafft es nicht auf die politische Agenda. Es dominieren Themen, die auch einen globalen Bezug aufweisen: Fukushima, Migration, Bankenpleiten. Diese lassen sich in einen Schweizer Kontext einordnen.

Nach den Wahlen 2019 war viel von der «grünen Welle» die Rede. Hat sich dieser Trend im Parlament niedergeschlagen?
Jans: Es hat sich etwas bewegt. Schauen Sie nur auf die Klimaabstimmung vom Juni. Mit Ausnahme der SVP haben sich alle wichtigen Parteien für ein Ja eingesetzt, und die Vorlage ist an der Urne solide durchgekommen. Das wäre vor den Wahlen 2019 so kaum denkbar gewesen. Doch die Frage ist, wäre in dieser Legislatur nicht mehr drin gelegen? Aus Sicht der Umwelt sicher. Nur leben wir seit vier Jahren im Krisenmodus. Corona, die Ukraine, die Banken – und das alles neben der Klimakrise.

Was wäre nötig, damit die Politik die Umweltkrisen stärker wahrnehmen und entschlossen handeln würde?
Jans: Die kollektive Erfahrung der Schweizerinnen und Schweizer ist seit zwanzig Jahren dieselbe: Wir haben relativ viele Krisen, aber irgendwie lassen sie sich immer bewältigen, und am Schluss ist es immer gut herausgekommen. Im Gegensatz zu anderen Ländern fehlt uns die Erfahrung von substanziellen Einbussen beim Wohlstand. Die Umweltkrisen werden meist nicht als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen. Den meisten Leuten fällt es schwer, sich für Sachen einzusetzen, die sich erst in der Zukunft bezahlt machen. Bis die breite Masse für persönliche Opfer bereit ist, braucht es extrem viel.

Die Klimakleber:innen erzeugen mit ihren Aktionen viel Aufmerksamkeit. Schaden diese Protestformen, oder helfen sie der Sache?
Jans: Mit Blick auf unmittelbare Abstimmungen oder Wahlen sind diese Aktionen eher hinderlich für eine lösungsorientierte Politik, weil sie in diesen entscheidenden Momenten nicht als konstruktiver Beitrag wahrgenommen werden. Doch insgesamt haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass es einen stetigen Druck aus der Zivilgesellschaft braucht, damit sich etwas bewegt. Ohne diese Bewegungen, die auf zivilen Ungehorsam setzen, wären wir heute nie so weit.

«Bis die breite Masse für persönliche Opfer bereit ist, braucht es extrem viel.»

Wie kann der WWF den Wandel in der Politik zu beschleunigen?
Jans: Der WWF polarisiert sicher weniger, was ein grosser Vorteil in der Politik darstellt: Die meisten Milizpolitiker:innen sind auf Informationen von glaubwürdiger Seite angewiesen. Der WWF nimmt hier eine wichtige Rolle wahr, indem er die Politik mit relevanten Informationen versorgt. Es gelingt ihm auch, breite Allianzen zu schmieden für die Umwelt, zum Beispiel mit der Wirtschaft.

Heute werden Wahl- und Abstimmungskämpfe mit Fake News geführt. Doch Lügen schaden der Demokratie.
Jans: Diese Entwicklung ist ein Problem. Wir müssen viel mehr in die politische Bildung investieren und hart daran arbeiten, dass Leute über genügend Kompetenz verfügen, um politische Argumente richtig einschätzen zu können. Dies ist in Zeiten des Medienwandels und der veränderten Nutzungsgewohnheiten eine grosse Herausforderung.

Wie bringt man denn junge Menschen an die Urne?
Jans: Man muss aufzeigen, warum Politik wichtig für sie ist und wie sie direkt von politischen Entscheiden betroffen sind. Themen wie Stempelsteuer oder Managed Care sind für viele Junge zu kompliziert – sie haben nicht direkt mit ihrem Alltag zu tun. Zentral ist zudem, dass man die Jungen auf ihren Kanälen in ihrer eigenen Sprache abholt.

Fridays for Future hat bewiesen, dass sich Jugendliche sehr wohl für das Klima interessieren.
Jans: Es braucht immer eine klare Betroffenheit. Dann bringt man die Jungen auf die Strasse – aber noch längst nicht an die Urne. Beim Thema Klima ist tatsächlich eine Repolitisierung in der jüngsten Generation zu beobachten. Bei der Umfrage zum Sorgenbarometer haben uns mehr Jugendliche als früher gesagt, dass sie sich eher der Klimabewegung zugehörig fühlen als einer Religion. Doch in diesen Bewegungen sind vor allem Gymnasiast:innen und Student:innen mit Akademikereltern aktiv, nicht die grosse Masse der Berufsschüler:innen.

Interview von Jonas Schmid und Stefan Inderbitzin

WWF Magazin 3/2023