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Greina Hochebene Aussicht in die Mäander
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23. Februar 2023

Das Herz der Schweizer Natur

In den letzten wilden Gebieten der Schweiz sieht und spürt man die Vielfalt der Natur auf Schritt und Tritt. Doch nun sollen ausgerechnet in diesen wertvollen Landschaften neue Stromanlagen erlaubt werden. Diese Pläne des Parlaments bedrohen das Herz der Schweizer Natur.

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Plaun la Greina Blumenwiese
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Zinal Gletscher Schneeschuhwanderung

Viva la Greina! Unter diesem Leitspruch protestierte die Bevölkerung in den Achtzigjahren gegen einen Stausee auf der unberührten Greina-Hochebene in Graubünden. Dank des Widerstands blieb die eindrückliche Landschaft mit ihren mäandrierenden Gewässern und vielfältigen Biotopen bis heute erhalten. Die Greina gilt seither als Schweizer Naturheiligtum mit Symbolkraft – und noch immer wandert man ausschliesslich zu Fuss über das Hochplateau von Graubünden ins Tessin. «Die Greina ist für mich ein Kraftort», sagt Bergführerin Rita Christen. «Die Weite und Schönheit dieser Hochebene berühren mich bei jedem Besuch von Neuem.»

Der Nationalrat hat es in der Hand

Doch es scheint, als müsste jede Generation aufs Neue für ihre Naturperlen kämpfen: So fällte der Ständerat im letzten September einen folgenschweren Entscheid: Er will den strengen Schutz der Biotope von nationaler Bedeutung abschaffen. Damit würde das Verbot für den Bau von Energieanlagen in diesen letzten unberührten Naturgebieten aufgehoben. Neue Staudammprojekte, wie sie teilweise bereits in der Schublade liegen, könnten dadurch in Gebieten wie der Greina, dem Val Roseg (beide Graubünden), Maderanertal (Uri) oder im Val d’Anniviers (Zinal, Wallis) vorangetrieben werden. 

Für das Val Roseg würde dies etwa bedeuten, dass eine Staumauer von rund 150 Meter Höhe im Bereich des nördlichen Endes des Lej da Vadret errichtet würde – inklusive Baustelleninfrastruktur, Zufahrtswegen und Restwasser-Strecken. Ein Super-Gau für die bereits angeschlagene Naturvielfalt im alpinen Hochtal. Nun ruht die letzte Hoffnung für den Schutz dieser wertvollen Biotope auf dem Nationalrat.

«Diese Biotope sind das Heiligste vom Heiligen, was die Biodiversität betrifft», sagt Pflanzenökologe Markus Fischer von der Universität Bern.

Die Biotope sind die letzten Überreste einst ausgedehnter Lebensräume. Diese Moore, Auen, Amphibienlaichgebiete und Trockenwiesen machen nur gerade 2 Prozent der Schweizer Landesfläche aus, sind jedoch Heimat für einen Drittel aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten. «Die Biotope tragen enorm viel zur gesamten Vielfalt der Landschaften, Lebensräume und Arten der Schweiz bei», so Pflanzenökologe Markus Fischer. «Sie sind in ihrer Artenzusammensetzung einzigartig. Ihr Verlust wäre also unersetzlich.»

Insekten, Amphibien und Vögel

Nehmen wir die Auenwälder. Sie bieten Lebensraum für achtzig Prozent der in der Schweiz vorkommenden Tier- und Pflanzenarten. Auen sind nicht nur wichtig für Fische, Insekten und Amphibien, sondern auch wahre Vogelparadiese. So ist etwa der vom Aussterben bedrohte Flussuferläufer auf die natürliche Dynamik von unverbauten Fliessgewässern angewiesen. Er braucht sandige und kiesige Auflandungen zum Brüten, die mit lockerer, niedriger Bodenvegetation und niedrigen Sträuchern durchsetzt sind. Als Zugvogel ist er nur im Sommerhalbjahr bei uns zu beobachten. Die letzten 100 Brutpaare der Schweiz brüten in naturnahen Flussauen der Alpen und Voralpen. Ein anderes Beispiel ist die einfache Mondraute: Diese Pflanze kommt praktisch nur noch im Val Roseg vor. 

Seit 1850 sind 90 Prozent der Auen in der Schweiz verschwunden. Die letzten übriggebliebenen Flächen müssten qualitativ aufgewertet und besser miteinander vernetzt werden, um die restliche Artenvielfalt zu erhalten. Doch statt diese Aufgabe entschlossen an die Hand zu nehmen, wird nun unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit gar der Schutz an sich infrage gestellt.

Das Herz der Natur zu verbauen ist unvernünftig, solange wir das riesige Potenzial für Effizienz und Sonnenstrom auf unseren Dächern, Fassaden und Infrastrukturen noch nicht annähernd ausgeschöpft haben. Wieso sollen wir das Goldvreneli verscherbeln, wenn wir noch genügend Münz im Sack haben? Das Artensterben trifft uns mindestens so existenziell wie die Klimakrise. Wir benötigen Lösungen, die beide Krisen gemeinsam angehen. Es ist einfach unvernünftig, die wertvollsten 2 Prozent Naturflächen zu opfern, die Energiewende ist problemlos auch auf den restlichen 98 Prozent der Landesfläche machbar.

Zudem ist es kontraproduktiv, den Biotopschutz zu streichen, denn die Biotope helfen uns im Kampf gegen die Klimakrise: Sie schützen vor Hochwasser und Trockenheit. Sie reinigen das Wasser und speichern CO2. Werden sie verbaut, wären die Schäden an der Natur nicht wiedergutzumachen.

Wichtig für unsere Identität

Die Biotope sind nicht nur das Herz der Natur, sondern sie prägen auch unsere Identität. Sie bilden den Grundpfeiler für das kulturelle und wirtschaftliche Überleben vieler Regionen. So wirbt die Tourismusregion Maderanertal auf ihrer Webseite mit der Einzigartigkeit der alpinen Landschaft: «Eine wilde und romantische Bergwelt erwartet Sie. Sie treffen auf Naturschönheiten wie Gletscher, Seen, Bergbäche und Alpenblumen.»

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Greina Tal
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mountain landscape with high peaks and green grassy meadows and trees in the Zinal Valley of Switzerland
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Maderanertal flusslauf

Das «Bündnis für den Biotopschutz» will das Herz der Schweizer Natur bewahren und setzt sich deshalb für eine Beibehaltung des Biotopschutzes ein. Sie wird getragen von Verbänden, Organisationen und Einzelpersonen.

Der einmalige Charakter des Maderanertals liegt in seinen tosenden Wasserfällen und dem wilden Chärstelenbach. Doch mit Zufahrtsstrasse, Staudamm und Bächen ohne Wasser wäre das Tal unwiderruflich zerstört, das Prädikat «wild und romantisch» nur noch eine leere Phrase. Auch für die Arbeit von Bergführerin Rita Christen sind diese unberührten Gebiete wichtig: «Für mich und meine Gäste geht es beim Bergsteigen nicht nur um die sportliche Leistung, sondern ganz zentral auch um ein tiefes Erleben der Natur», sagt Rita Christen. Dies gelinge in unverbauten alpinen Freiräumen wie der Val Roseg besonders gut. Die Unversehrtheit der Landschaft helfe, das Alltagsbewusstsein abzulegen und zur Ruhe zu kommen. «Infrastrukturen wie Strassen, Stromleitungen, Staumauern und Solarparks erschweren oder verunmöglichen ein befreiendes Naturerlebnis und zerstören eine wertvolle touristische Ressource», betont Christen, die den Schweizer Bergführerverband leitet.

Keine Abstriche beim Naturschutz

Eine intakte Natur ist denn auch für eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung zentraler Bestandteil von Wohlstand. Das zeigt eine im September 2022 veröffentlichte Studie der BKW, des drittgrössten Energiekonzerns der Schweiz. Und auch die jährliche durchgeführte Univox-Studie des Forschungsinstituts GFS belegt, dass der Ständerat an der Bevölkerung vorbeipolitisiert: 60 Prozent der Befragten finden, dass der Zubau von Solaranlagen zuerst auf Dächern und Infrastrukturen erfolgen soll, bevor man Abstriche beim Naturschutz macht. Und 64 Prozent finden gar, dass in den national geschützten Auen und Mooren gar keine neuen Wasserkraftanlagen gebaut werden sollen. «Dieses Signal muss die Politik ernst nehmen», fordert Anita Mazzetta, Geschäftsführerin des WWF Graubünden. «Der Nationalrat hat es in der Hand, das Herz der Schweizer Natur für die kommende Generationen zu bewahren.» 

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abendstimmung, Spiegelung im Maderanertal auf See. Herz der Schweizer Natur

Lösungen – kurz und knapp

Die Energiewende gelingt auch, wenn der Biotopschutz bestehen bleibt. Die übrigen 98 Prozent der Schweizer Landesfläche bieten genügend Platz für die Stromproduktion, ohne dass unersetzbare Lebensräume für immer zerstört werden. Auch die Umweltallianz hat aufgezeigt, wie eine sichere und naturverträgliche Energieversorgung möglich ist und wie Klima- und Biodiversitätsschutz Hand in Hand gehen können.

Weniger Strom verschwenden

Ein Drittel des Stromverbrauchs in der Schweiz lässt sich einsparen – ganz ohne Komforteinbussen.

Auf Solarenergie setzen

Das Potenzial für Sonnenstrom auf bestehenden Dächern, Fassaden, Autobahnen und Infrastrukturen ist grösser als der aktuelle Stromverbrauch.

Wasserkraft gezielt ausbauen

Kantone, Stromproduzenten und Umweltverbände haben gemeinsam empfohlen, 15 Wasserkraftprojekte vertieft zu prüfen, ohne dass der Naturschutz aufgeweicht werden muss. Das ist die vernünftige, breit abgestützte Lösung, der gutschweizerische Kompromiss.

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Wanderung zur Val Roseg, Herz der Schweizer Natur
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Wanderung zur Val Roseg, Herz der Schweizer Natur
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Wanderung zur Val Roseg, Herz der Schweizer Natur, Banner Vogelperspektive

Was Sie tun können

Der Erhalt der Schweizer Natur wird von vielen getragen. Um die Aktion «Retten wir das Herz der Schweizer Natur» zu unterstützen, können Sie sich mit einem Leserbrief an Ihre lokale oder regionale Zeitung für den Erhalt der Biotope einsetzen oder das Zeitungsinserat unterzeichnen. Wenn Sie zusätzlich eine persönliche Botschaft zu den wertvollen Lebensräumen wie Zinal, Greina, Val Roseg oder dem Maderanertal schreiben, veröffentlichen wir sie auf der Projekt-Website.

Der Biotop- und Klimaschutz behält seine Wichtigkeit auch in der Zukunft. Geben Sie bei den Parlamentswahlen im Herbst jenen Parteien Ihre Stimme, die sich für die Umwelt einsetzen. Bei einem unserer zahlreichen Freiwilligen-Einsätzen können Sie sich aktiv für unsere Natur und Umwelt einsetzen. Mit einer Spende unterstützen Sie unsere Arbeit auf gesellschaftlicher, politischer und internationaler Ebene.

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Alpenpanorama

Alpen schützen

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Freiwillige der Sektion WWF St. Gallen helfen am Brändliberg, St. Gallen, Schweiz

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