
Auf den Spuren des Luchses
Zum Internationalen Tag des Luchses am 11. Juni nehmen wir Sie mit ins St. Galler Rheintal: Gemeinsam mit der Luchs-Expertin Ursula Sterrer von Kora.
Text in gekürzter Form aus dem WWF Magazin 2/2025 von Kurt Eichenberger
Ein Wolf, wow! Fasziniert schaue ich auf Ursula Sterrers Mobiltelefon. Die Luchs-Expertin hat soeben die Bilder einer Fotofalle auf ihr Telefon überspielt. Doch eigentlich sucht Sterrer östlich vom Walensee keinen Nachweis von Wölfen. Die Biologin ist dem Luchs auf der Spur. Sie leitet das schweizerische Luchsmonitoring für Kora im Auftrag des Bundes. Ich begleite sie und den Zivildienstler Tim bei einem Kontrollgang am Werdenberg, an der westlichen Bergflanke des St. Galler Rheintals zwischen Malans und Grabs. 60 Nächte lang findet das Monitoring statt, bei dem man die Fotofallen an siebzig Standorten auswertet. Alle drei bis vier Jahre stellt Kora in Zusammenarbeit mit Wildhut und Jagdgesellschaften diese Kameras an Schlüsselstellen auf. Ihre Bilder zeigen, wie sich die Luchspopulation regional entwickelt.
Die Ausrottungswelle
Noch vor wenigen Jahrzehnten galten Luchs und Wolf in der Schweiz als ausgerottet. Wegen der Abholzung der Wälder, der unregulierten Jagd, der starken Verbreitung von Schusswaffen und Prämienzahlungen für tote Raubtiere schlug damals die letzte Stunde vieler Wildtierarten. Zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden Steinbock, Reh, Hirsch, Wildschwein und damit auch die Raubtiere Luchs, Bär und Wolf.
Erste Wiederansiedlungsversuche
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden mehrere Gesetze erlassen, welche den Schutz der Arten und des Lebensraumes regelten, was die Rückkehr und Erholung der Wildbestände förderte. Steinbock und Luchs wurden im 20. Jahrhundert gezielt wieder angesiedelt. Tierarten, die einst ausgerottet wurden, sind in die wachsenden Wälder zurückgekehrt. Sie sind heute gebietsweise derart häufig, dass die Regulierung über die Jagd nicht mehr funktioniert.
Gegenseitige Regulation von Luchs und Beutetieren
Wolf und Luchs sind deshalb willkommen, um das Gleichgewicht zwischen Wald und Wild zu gewährleisten, was auch Wald Schweiz (der Verband der Waldeigentümer) in einem Positionspapier festhält. Rehe und Hirsche lieben die Jungpflanzen von Bäumen. Hat es zu viel Wild, leidet der Wald. Der Luchs und Beutetiere wie Reh und Gämse gehören zusammen. Gibt es weniger Beutetiere, wirkt sich das auf den Luchs aus, und umgekehrt: Sie regulieren sich gegenseitig, und sorgen so für ein besseres Gleichgewicht in der vom Menschen geprägten Naturlandschaft.
Rekordhohe Wildbestände
Die Ausrottungsgeschichte des Luchses und vieler anderer Wildtiere zeigt auf was passiert, wenn Menschen natürliche Lebensräume übernutzen. Die Geschichte zeigt aber auch, dass sich einmal gemachte Fehler mit entschlossenem Handeln korrigieren lassen. Sowohl dem Wald als auch dem Wild geht es heute in der Schweiz viel besser. Nur: Wir sind derzeit dabei, die erreichten Erfolge wieder zunichtezumachen. Trotz Klima- und Biodiversitätskrise sägen wir unbedacht am Ast, auf dem wir sitzen. Die Gelder für den Naturschutz werden gekürzt statt erhöht, obschon die Herausforderungen wachsen.
Die Wiederbesiedlung des Alpenraums
Nach der Ausrottung hat die Schweiz den Luchs wieder angesiedelt: In den Schweizer Alpen wurden zwischen 1971 und 1980 16 Tiere freigelassen, im Jura weitere 10, alles Wildfänge aus den Karpaten. Das Schicksal der ausgesetzten Tiere ist ungewiss, weil sie nach der Freilassung nicht überwacht wurden. Das änderte sich erst mit dem Umsiedlungsprojekt «Luno» in der Nordostschweiz. Hier starteten fünf Kantone gemeinsam die Luchsumsiedlung zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt (Bafu). Von 2001 bis 2008 wurden zwölf Tiere aus den Nordwestalpen und aus dem Jura umgesiedelt, um befürchtete Inzuchteffekte so tief wie möglich zu halten.
Bei einer kurzen Rast zeigt sich Sterrer sehr erfreut über das erfolgreiche Resultat des Umsiedlungsprojekts: «Der Bestand im Gebiet ist stabil, und es wandern immer wieder Luchse ab, zum Beispiel Richtung Norden bis in die Nähe des Bodensees», sagt sie. Der Luchs kann in der modernen Kulturlandschaft leben. Die scheuen Tiere kommen besser mit dem Menschen und mit Störungen zurecht als ursprünglich gedacht, auch wenn Tiere beim Überqueren von Strassen und Schienen werden. Der Luchs braucht keine unberührte Natur. Er braucht zusammenhängende Lebensräume, um ausreichend grosse Populationen zu bilden und eine genetische Sanierung. Leider fehlt heute dafür eine gesetzliche Basis.
Damoklesschwert Genetik
Die Genetik ist das Damoklesschwert, das über der Schweizer Luchspopulation in der Schweiz schwebt. Die Wiederansiedlung nur weniger Tiere aus den Karpaten hatte einen Verlust an genetischer Breite zur Folge. So haben die Luchse heute in unserem Land einen geringeren Spielraum, sich an Umweltveränderungen anzupassen, damit verbunden ist ein höheres Aussterberisiko. Um das langfristige Überleben der Art in der Schweiz zu sichern, braucht es frisches Blut aus anderen Karpatenpopulationen.



(oben links) Junge Luchse in einer Felsnische im Simmental BE; (unten links) Ein Luchs versteckt sich im Dickickt; (rechts) Scheu und wachsam: Ein Luchs unterwegs in seinem Revier.
Gemäss Schätzung von Kora leben bereits etwa 340 Luchse in unserem Land, doch der Bestand ist latent bedroht. So ist die Häufung von Herzanomalien ein mögliches Anzeichen für Inzucht. Zudem haben Bilder des Tierfotografen Alain Prêtre für Aufsehen gesorgt: Er hatte im Jura in der Grenzregion zu Frankreich einen Luchs ohne Ohren fotografiert. Später kamen Bilder von zwei weiteren Luchsen ohne Ohren dazu, allesamt sind sie Geschwister. Mehrere Faktoren können für die Missbildung verantwortlich sein, Inzucht ist einer davon.
Unsere Fahrt geht zu Ende. Die Dämmerung bricht herein, und die Strasse gefriert. Der Allrad- Subaru gerät bei Bremsversuchen ins Rutschen. Die Kontrolle der letzten Fotofalle bleibt uns verwehrt und damit auch die letzte Chance auf ein Luchsbild. Als Trost zeigt Sterrer ein Bild eines früheren Kontrollgangs. An der vorletzten Fotofalle wurde zwei Wochen vorher ein wunderschöner Luchs geblitzt. Faszinierendes Pinselohr! Wandert seit über 50 Jahren durch die Schweiz und wird kaum je gesehen. Nur dank moderner Technik wissen wir heute so viel mehr über den Luchs. Hoffentlich trägt dieses Wissen dazu bei, dass der heimliche Jäger auch bei uns überleben kann!
Was Sie tun können
Unterstützen Sie unsere Arbeit zum Schutz der Artenvielfalt – mit einer Spende, einem Einkauf im WWF-Shop oder als Mitglied. Gemeinsam ermöglichen wir dem Luchs eine Zukunft und verleihen der Natur politisches Gewicht.