Mit Tigern leben - In einer Welt im Wandel
Wie schützt man Tiger in einer Welt, in der mehr Menschen leben als je zuvor? In der die Klimakrise den Lebensraum für Mensch und Tier akut bedroht? Reisen Sie mit uns nach Indien, in die Gegend des Pilibhit-Tigerreservats. Erfahren Sie von Atul Singh, welche Herausforderung das Leben mit der Grosskatze mit sich bringt und wie er mit Unterstützung des WWF das Miteinander von Grossraubtier und Mensch fördert.
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TigerTiger sind «stark gefährdet» – immer noch. Trotzdem gibt es im aktuellen chinesischen Jahr des Tigers gute Nachrichten für Freundinnen und Freunde der weltweit grössten Raubkatze. Dank des unermüdlichen Einsatzes von Menschen auf dem gesamten Globus wurden 2022 4900 freilebende Tiger gezählt, das sind über 50 Prozent mehr als in der Zählung von 2010. Das ist eine Trendwende zum Besseren – denn seit Anfang des 20. Jahrhunderts war die Anzahl Tiger in freier Wildbahn stetig gesunken.
Doch eine weitere Erholung der Bestände ist nicht garantiert. Denn Asien – der einzige Kontinent, auf dem die ikonische Grosskatze beheimatet ist – hat sich stark verändert und wird das weiterhin tun. Ob es dabei Platz für den Tiger gibt, hängt von den Weichen ab, die wir jetzt stellen.
Zersiedelung und Verstädterung schreiten ungebremst voran und machen auch vor Schutzgebieten nicht halt. Der wirtschaftliche Aufschwung bringt neue Strassen, Zugverbindungen, Dörfer, Städte, ja ganze Industrien mit sich. Mehr Menschen brauchen auch mehr Nahrung, was wiederum grössere Flächen für die Landwirtschaft nötig macht. Dazu kommt die Klimakrise, aufgrund derer Lebensräume für Mensch und Tiger schwinden werden. Bereits heute sind die Lebensräume der Grosskatzen stark zerschnitten und isoliert, was die Paarbildung und Fortpflanzung von Tigern erschwert.
Die Konsequenz: Weltweit leben heute bereits 46,7 Millionen Menschen Seite an Seite mit den freilebenden Tigern. Das wirft die Frage auf, wie Konflikte zwischen Menschen und Tiger reduziert und auch in Zukunft tief gehalten werden können. Deutlich zeigen sich die Herausforderungen dieser Koexistenz in Indien. In der Region, die rund 70 Prozent der freilebenden Tiger beherbergt, leben bereits heute 32 Millionen Menschen, und die Zahl steigt weiter an. Während wir uns über steigende Tigerzahlen freuen können, ist das für die Menschen vor Ort nicht immer einfach. Aber dazu später mehr.
Zwischen «gefährlich» und «gefährdet»
Kaum eine Geschichte illustriert sowohl Vergangenheit als auch Zukunft im Umgang mit dem Tiger besser als der Lebensweg von Atul Singh.
«Bei Mensch-Tiger-Konflikten engagierte die Forstbehörde früher private Jäger», erzählt er und isst dabei sein warmes Paratha. Regen tropft auf das dünne Zinn-Dach seines Hauses. Dann nimmt der Mann mit dem auffallenden Schnauz einem alten Bilderrahmen von der Wand. Auf der schwarz-weissen Fotografie erkennt man eine Gruppe gut gekleideter Herren mit Jagdgewehren. Zu ihren Füssen ein lebloser männlicher Tiger.
«Mein Grossvater war der erste private Tigerjäger in diesem Gebiet», sagt Atul Singh und fügt an: «Er tötete 24 der majestätischen Grosskatzen.»
Nur ein Steinwurf entfernt von Atuls Zuhause, hinter Weizenfeldern und Zuckerroher-Plantagen, liegen die Wälder des Pilibhit-Tigerreservats. Nirgends auf der Welt leben mehr Tiger in freier Wildbahn als hier.
Das Reservat ist ein langer, schmaler Waldstreifen und liegt inmitten der Ausläufer des Himalayas. Flankiert ist das Schutzgebiet von dicht bewohntem Gebiet. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen den Lebensräumen von Menschen und Tigern. Zwischen Siedlungen und Schutzgebiet liegen Zuckerrohrplantagen und Weizenfelder, wo Tigerweibchen ihre Jungen zur Welt bringen – eine gefährliche Situation für Bäuerinnen und Bauern.
Auch Beutetiere des Tigers ziehen sich gern in die Plantagen zurück, auf der Jagd folgen ihnen die Tiger dorthin. Andere, oft junge Tiger streunen noch weiter in Richtung der menschlichen Siedlungen. «Ein junger Tiger verirrte sich einst gar in die Küche eines Familienhaushalts», berichtet Atul Singh.
Diese Umstände führten dazu, dass die Gegend rund um das Reservat zum Brennpunkt für Mensch-Tiger-Konflikte wurde. «Die Menschen hier haben viele Verluste zu beklagen», erklärt Atul. Er hält inne und schaut mit gerunzelter Stirn zu Boden. «Das bewog einige Anwohner:innen dazu, sich zu wehren und die Tiger zu verfolgen und zu töten.»
Es ist leicht, sich aus der Ferne über steigende Tigerzahlen zu freuen. Für die Menschen vor Ort aber kann jeder Tiger zur Gefahr werden – für die eigenen Nutztiere oder in extremen Fällen für das eigene Leben. Jeder Konflikt mit einem Tiger vermindert die Akzeptanz der Menschen vor Ort für die Grosskatze. Im Umkehrschluss heisst das, dass jeder vermiedene Konflikt eine Chance ist. Wie das gehen kann, zeigt das Beispiel von Atul Singh.
Vom Feind zum Freund
Tief betroffen von den zunehmenden Mensch-Tiger-Konflikten in seiner Nachbarschaft, entschied sich Atul dazu, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen. «Seit meiner Kindheit ist der Tiger für mich das wundervollste Tier der Erde. Je mehr ich über ihn lernen durfte, desto neugieriger wurde ich. Gleichzeitig realisierte ich, dass die Tiere langsam verschwinden», erklärt Atul. Er kennt die Gegend und ihre Tiger wie kein zweiter. Von Kind auf streifte er hier – oft zusammen mit seinem Grossvater – durch Wald und Felder.
Atul war klar, dass er die Tiger nicht daran hindern kann, die Wälder zu verlassen. Doch die von seinem Grossvater erlernten Fähigkeiten halfen ihm, das Risiko zu minimieren, das von einem Tiger für die Menschen vor Ort ausgeht. Er begann damit, Tiger ausserhalb des Reservats zu registrieren, ihre Streifzüge vorauszusagen und die Anwohner:innen zu warnen, wenn sich ein Tier in ihrer Nähe aufhielt. So merkte er schnell, dass viele Konflikte mit dem Tiger durch einen bewussten und vorsichtigen Umgang verhindert werden können.
Mit der Unterstützung des WWF baute Atul in der Folge ein erstes Team von 12 lokalen Tiger-Schützern auf. Sie nennen sich «Bagh Mitra», was so viel bedeutet wie Freunde des Tigers. Die «Bagh Mitra» arbeiten Hand in Hand mit der Forstbehörde. Sie orten Tiger, überwachen ihre Streifzüge und schulen die Gemeinden im Umgang mit der Grosskatze. So können Konflikten vorgebeugt und das Verständnis für den Tigerschutz in der lokalen Bevölkerung gefördert werden. Mittlerweile gibt es in den Siedlungen rund um das Pilibhit-Tigerreservat bereits 200 «Bagh Mitra».
«Wir arbeiten tagtäglich mit den Menschen in der Gegend und helfen ihnen, friedlich mit den Tigern zu leben», sagt Atul. «Die Tatsache, dass wir die Zahl der freilebenden Tiger in Pilibhit verdoppeln konnten, erfüllt uns mit Stolz», fügt er hinzu.
Von den «Freunden des Tigers» lernen
Die Geschichte von Atul zeigt nicht nur, wie sich das Zusammenleben mit dem Tiger verändert hat. Sie gibt zugleich die Richtung vor, in die sich der Tiger- und der Artenschutz der Zukunft bewegen muss.
Wie der WWF-Bericht «Living with Tigers» fordert, braucht es ein Umdenken im Artenschutz. Es reicht nicht, isolierte Schutzräume für bedrohte Tiere zu schaffen. In erster Linie muss der Fokus auf der Förderung der friedlichen Koexistenz von Menschen und Grossraubkatze liegen. Damit der Tiger auch in Zukunft in freier Wildbahn leben kann, sind wir Umweltschützer:innen auf die Unterstützung, Expertise und Erfahrung der Menschen angewiesen, die täglich mit den Tieren zu tun haben.
Das «Bagh Mitra»-Programm nimmt in dieser Hinsicht eine Pionierrolle ein. In enger Zusammenarbeit mit der Forstbehörde von Uttar Pradesh und dem WWF tragen die «Freunde des Tigers» massgeblich dazu bei, die Akzeptanz gegenüber der majestätischen Raubkatze lokal zu verankern. Und Akzeptanz ist die Grundvoraussetzung für die friedliche Koexistenz von Menschen und Wildtieren in Indien und auf der ganzen Welt.
Was Sie tun können
Unterstützen Sie den WWF dabei, lokale Initiativen wie die «Bagh Mitra» auch in Zukunft zu fördern, und tragen Sie so dazu bei, dass Tiger, Löwen und andere Grossraubtiere friedlich mit den Menschen vor Ort zusammenleben können. Ihre Spende macht den Unterschied!